Beschluss des Bundesverfassungsgerichts
vom 08.07.2021 zur Verzinsung von
Steuernachforderungen und Steuererstattungen
A. Die bisherige Regelung der Verzinsung ist verfassungswidrig
Bislang wurde für die Verzinsung von Steuernachforderungen und Steuererstattungen ein Zinssatz von monatlich 0,5 % erhoben, mithin 6 % p.a. Die sog. Vollverzinsung soll ausgleichen, dass die Steuern des Einzelnen zu unterschiedlichen Zeitpunkten festgesetzt und fällig werden. Dies bedeutet, dass aus später festgesetzten Steuern ein Zinsvorteil resultieren könnte, beziehungsweise spiegelbildlich ein Zinsnachteil bei späten Steuererstattungen. Dieser Zinssatz von 0,5 % war laut der damaligen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bis zum 1. Januar 2014 noch verfassungsgemäß. Grund für die Rechtsprechungsänderung war das anhaltende Niedrigzinsniveau, welches seit der Finanzkrise von 2008 den Markt beherrscht. Damit entsprach der von der Vollverzinsung auszugleichende Zinsvorteil nicht mehr dem lebenswirklichen Marktzinsniveau, welches evident niedriger als die gesetzlich angenommenen monatlichen 0,5 % war und bis dato immer noch ist. Somit war die Verzinsung von Steuernachforderungen und Steuererstattungen seit 2014 ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz gemäß Art. 3 Abs. 1 GG und folglich verfassungswidrig.

B. Welche Steuerarten sind davon betroffen und wann gilt die Vollverzinsung? Nach § 233a Abs. 1 S. 1 AO sind die Einkommensteuer, Körperschaftsteuer, Umsatzsteuer und Gewerbesteuer betroffen. Die Vollverzinsung gilt allerdings erst bei einer Steuerfestsetzung nach Ablauf einer Karenzzeit von grundsätzlich 15 Monaten. Nur für den Veranlagungszeitraum 2019 gilt aufgrund der Verlängerung von Steuererklärungsfristen ein längerer Karenzzeitraum, sodass der Zinslauf erst am 01.10.2021 beginnt.
C. Welche Folgen hat die Entscheidung des BVerfG für die Praxis?
Die Entscheidung des BVerfG ist für Verzinsungszeiträume erheblich, die in das Jahr 2019 fallen. Somit könnten seit diesem Zeitpunkt erhobene Zinsen für Steuernachforderungen vom Staat, beziehungsweise gewährte Zinsen bei Steuererstattungen vom Steuerzahler, zurückzuzahlen sein. Mithin ist der Gesetzgeber verpflichtet bis zum 31. Juli 2022 eine verfassungsgemäße Neuregelung zu verabschieden. Wie sich diese gestalten wird, ist noch nicht ersichtlich und wird wohl erst nach der anstehenden Bundestagswahl entschieden werden. Die Neuregelung könnte durch eine Koppelung an einen Referenzzinssatz einen dynamischen Zinssatz vorsehen, womit die Verzinsung dann „automatisch“ realitätsgerecht wäre. Alternativ könnte aber auch ein (niedrigerer) fester Zinssatz eingeführt werden, der dann in regelmäßig Abständen angepasst werden müsste.
De facto haben die Finanzämter in Anbetracht der unklaren Rechtslage die Vollverzinsung schon seit Mai 2019 nur mittels Vorläufigkeitsvermerken festgesetzt. Vor diesem Hintergrund bleibt zunächst die gesetzliche Neuregelung abzuwarten. In Nachzahlungsfällen kann weiterhin eine Aussetzung der Vollziehung beantragt werden.
D. Fazit
Das Bundesverfassungsgericht hat mit der Entscheidung nun endlich Rechtsklarheit bewirkt sowie eine realitätsgerechte Neuregelung ab dem 31. Juli 2022 in Aussicht gestellt. Handlungsbedarf für Steuerpflichtige besteht vorerst nicht, da Bescheide weiterhin mit einem entsprechenden Vorläufigkeitsvermerk ergehen. Es ist abzusehen, dass künftig weitere steuerliche Normen im Fokus der verfassungsrechtlichen Prüfung stehen werden, die einen festen und heute realitätswidrigen Zinssatz enthalten. Dies gilt insbesondere für die Regelung des § 6a EStG bezüglich des Zinssatzes für die Abzinsung von Pensionsverpflichtungen in der Steuerbilanz.